Staatsrat Stryks „System in vier Worten“

Zu populärem Wissen, Popularisierungsstrategien und Text-Bild-Relationen in zwei Editionen der Novelle „Es ist sehr möglich“ von Heinrich Zschokke

Um 1960 erscheint im Verlagshaus Reutlingen, Oertel & Spörer, eine Einzeledition von Heinrich Zschokkes Novelle „Es ist sehr möglich“ unter dem Titel „Der Prophetenspiegel“. Doch nicht nur der Titel wurde gegenüber früheren Ausgaben geändert; man fügte auch Zeichnungen von Fritz Fischer hinzu, während der Text selbst Kürzungen erfuhr. Die mit beträchtlichem Aufwand betriebene Neuauflage gerade dieser Novelle, die sich aufgrund ihres schmalen Umfanges – verglichen mit anderen Werken des Autors –  auf den ersten Blick eher weniger für eine gesonderte und noch dazu gebundene Publikation anzubieten scheint, verwundert. Warum wurde gerade dieser Text in einer Zeit, in welcher das öffentliche Interesse an den literarischen Werken Zschokkes bereits deutlich nachgelassen hatte, neu aufgelegt? Zu welchem Zwecke änderte man seinen Titel, und aus welchem Grunde wurde ausgerechnet diese Novelle Zschokkes, die bis dato nicht illustriert worden war, nun auch noch mit Zeichnungen versehen?

Zschokke ist bereits zu seinen Lebzeiten als Autor populärer Literatur eingeordnet worden. Ebenso wie zahlreiche andere seiner Werke war auch „Es ist sehr möglich“ zweifellos ein Publikumserfolg, denn es wurde bereits Anfang des 19. Jahrhunderts mehrfach wiederaufgelegt. Faßt man das Phänomen der Popularität jedoch nicht nur rein quantitativ, ist zu fragen, welche Verfahren der Popularisierung in diesem Text Zschokkes erkennbar sind, welcher Art das populäre Wissen ist, das er vermittelt, und inwiefern die um 1960 neu herausgegebene Version der Novelle an diese Strategien und Funktionen des Textes anschließt bzw. ob diese gar als möglicher Grund für die Entscheidung zur Neuedition geltend gemacht werden können. Der vorliegende Aufsatz widmet sich folglich zunächst einer Analyse der ursprünglich veröffentlichten Version der Novelle mit dem Schwerpunkt auf den darin enthaltenen Techniken der Popularisierung sowie auf dem populären Wissen, das er transferiert; diese Untersuchung erfolgt hauptsächlich vor der Folie der Popularitätstheorien von Gottfried August Bürger, Friedrich Schiller und Johann Christoph Greiling, denn ihre Konzeptualisierungen von ‚Popularität‘ wurden zur Zeit der Niederschrift der Novelle um 1800 vehement diskutiert und stellen geistesgeschichtlich betrachtet den Stand der damaligen Forschung dar. Im Anschluß daran wird zu klären sein, wie der Begriff der Popularität vor dem Hintergrund heutiger Definitionsversuche, die Ende des 20. Jahrhunderts rückblickend sowohl Verfahren der Popularisierung um 1800 als auch solche des 20. Jahrhunderts, in welchem der Text neu editiert wurde, umschließen, auf den ursprünglichen Text Zschokkes appliziert werden könnte.

Abschließend wird im zweiten Teil des Aufsatzes die Entscheidung zur erneuten, aufwendigeren Edition des Textes um 1960 sowohl unter Berücksichtigung der Funktionalität der populären Elemente der Novelle, die zuvor im ersten Teil u.a. unter Rückgriff auf geistesgeschichtliche Rekonstruktionen der zeitgenössischen Popularisierungstheorien  herausgearbeitet wurden, als auch unter Einbeziehung der gegenwärtigen Theorieentwürfe, deren Untersuchungsfeld sich bis zu Popularisierungsstrategien in Publikationen des 20. Jahrhunderts erstreckt, näher ergründet. In diesem Kontext werden insbesondere die beim Zusammenspiel von Bild und Text nachweisbaren populären Visualisierungsstragien und ihre Funktionen in den Blick genommen.

1. Verfahren der Popularisierung und der Vermittlung populärer Wissensbestände in der Novelle „Es ist sehr möglich“

1.1 Zeitgenössische Theorien der Popularität

Bereits zu Zeiten Zschokkes ist eine lebhafte Kontroverse um den Begriff der Popularität zu verzeichnen, die Holger Dainat in seinem Aufsatz über „Programme printmedialer Inklusion in Deutschland 1750 – 1850“ erfaßt hat. Darin setzt er sich sowohl mit Gottfried August Bürgers Auffassung von Popularität, als auch mit derjenigen Friedrich Schillers und Johann Christoph Greilings auseinander.

Folgt man Bürgers Vorreden zu seinen Gedichten aus den Jahren 1778 und 1789 sowie seinem Aufsatz Von der Popularität der Poesie (1779), sah er das entscheidende Kriterium zur Beurteilung der Qualität von Poesie in ihrer Popularität; Adressat der Kunst ist für ihn das Volk, dem er die für eine angemessene Rezeption von Poesie nötige Empfindsamkeit fraglos unterstellt. Aufgrund der Ausrichtung der Literatur auf das Volk müsse sich diese, so Bürger, vor allem durch Deutlichkeit und Allgemeinverständlichkeit auszeichnen.

In seiner 1790 veröffentlichten Rezension von Bürgers Gedichten zweifelt Schiller dagegen die dem gesamten Volk zugeschriebene Empfindsamkeit mit Verweis auf dessen Heterogenität an; aus demselben Grunde scheint ihm auch keine allgemein verständliche Literatur denkbar zu sein. Das Volk, so seine These, müsse zunächst ästhetisch erzogen werden, sonst sei es nicht in der Lage, Kunst angemessen zu rezipieren. Die Vermittlung ästhetischen Wissens erfolgt nach Schiller streng hierarchisch von oben nach unten, also vom Künstler zum deutlich unter diesem stehenden Volk. Ziel ist ein Heraufziehen des Volkes auf eine höhere ästhetische Ebene. Popularisierung läßt sich folglich nach Schiller, so faßt Dainat pointiert zusammen, als „Akt der Herablassung“ seitens einer künstlerischen Elite charakterisieren, der mit der „Aufgabe des Hinaufziehens“ des von ihm weit entfernten Volkes verbunden sei. [4] Dabei ordnet Schiller ganz im Gegensatz zu Bürger das Ansinnen der Erziehung des Volkes eindeutig den Forderungen der Kunst unter.[5]

Der in Greilings Theorie der Popularität (erschienen 1805 in Magdeburg) entwickelte Begriff von ‚Popularität‘ ist durch eine mit dem Kulturkonzept Schillers vergleichbare Asymmetrie der Kommunikationsteilnehmer gekennzeichnet. Greiling zufolge kann man Popularität, wie Dainat unter anteiliger Verwendung von Greilings eigenen Worten formuliert, als „einen dritten mittleren beziehungsweise vermittelnden Bereich [auffassen, B.J.], wo eine Vereinigung ,des logischen Volkssinnes mit der höheren Erkenntnißart der Gelehrten‘ stattfindet. Hier wird ,eine auf dem gelehrten Standpunkte erkannte Wahrheit innerhalb des Horizontes des gemeinen Verstandes‘ verstehbar.“[7] Dabei bleibe die Differenz zwischen dem Gelehrten und dem Volk stets erhalten; diese Differenz solle zwar überbrückt, keinesfalls aber aufgehoben werden.[8] Das Volk bleibt also stets Volk, und ein Gelehrter, der aus dem Volke stammt und erfolgreich zur wissenschaftlichen Elite aufgestiegen ist, ist nach Ansicht Greilings nicht nur nicht denkbar, sondern auch nicht wünschenswert, da die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten in ihrem Bestand eindeutig gewahrt werden sollen. Popularität und Wissenschaftlichkeit bleiben somit streng voneinander geschieden: „Das höchste, was populäre Vorträge leisten können, ist Aufklärung, das höchste des wissenschaftlichen Denkens ein System der Philosophie.“

1.2 Der Begriff der ,Popularität‘ aus Sicht der heutigen Forschung

Bevor geklärt wird, wo in dieser theoretischen Debatte um 1800 die Position Zschokkes verortet werden könnte, sei an dieser Stelle zumindest ein knapper Blick auf heutige Definitionen von ,populär‘ und ,Popularisierung‘ geworfen. In ihrem 2005 erschienenen Band mit dem Titel „Popularisierung und Popularität“ konzeptualisieren Gereon Blaseio, Hedwig Pompe und Jens Ruchatz die zu untersuchenden Begriffe folgendermaßen:

Popularisierung ist […] als der Versuch zu betrachten, bei einem im wesentlichen unspezifischen Publikum über besondere Formen der Darbietung eine möglichst breite Annahme von Aussagen zu erreichen. Und populär sind diejenigen, denen es gelingt, auf allgemeine Akzeptanz zu stoßen, ohne jedoch mit den erzeugten Fiktionen einfach deckungsgleich zu werden.

Hier wäre zumindest näher zu erläutern, was genau unter den „besondere[n] Formen der Darbietung“ zu fassen ist, und wie die erwähnte „allgemeine Akzeptanz“ zu messen sei. Reingard Nethersole nennt als charakteristisches Merkmal von Popularität zumindest etwas präziser eine „quantitativ große Verbreitung“; das mag zunächst einleuchtend erscheinen, doch spätestens im Hinblick auf Werke, die zwar hohe Auflagen erreichen, inhaltlich jedoch höchst umstritten sind – was häufig als Grund für ihren finanziellen Erfolg gesehen werden kann – reicht dieses Kriterium von Nethersole zur Prüfung „allgemeine[r] Akzeptanz“ nicht mehr aus. Als populären Darstellungsmodus führt Nethersole in Anlehnung an Dave Moreley die Etablierung eines sogenannten „reality effect[s]“ an, welcher beim Rezipienten den Eindruck hervorrufe, der „als ,natürlich‘ sich ausgebende Diskurs sei leicht verständlich und wiederhole die Struktur der bekannten Lebenswelt.“ Als weitere Faktoren für Popularität gibt er u.a. „die Empfänglichkeit seitens der Leser für bestimmte im Text angelegte Werte, seine gemeinschaftsbildende Kraft“ sowie seinen „Gebrauchswert“ an; „Gebrauchswert“ erhalte ein Text durch „Faktoren der Lebenshilfe und des Modellcharakters“.

Im Gegensatz zu Nethersole verweigert sich Nicolas Pethes einer Definition von ,Popularität‘ über formale Merkmale und ästhetische Wertung. Er nennt zunächst in Anlehnung an Schiller „Publikumsvorlieben, große Leserzahlen und ein Spezialwissen überschreitendes Interesse“ als Kriterien für die Zuweisung von Popularität und faßt das Phänomen funktionsgeschichtlich, indem er als Aufgabe von Popularisierung die narrative Vermittlung und die Integration von Wissen nennt, während er die Generalisierung des Einzelfalls und die Inklusion des Lesers als Funktionen der Popularität identifiziert.

1.3 Narrative Popularisierungsstrategien in Zschokkes Novelle „Es ist sehr möglich“

Möchte man erforschen, welche der gerade dargelegten Merkmale und bzw. oder Funktionen von Popularität und Popularisierung in Zschokkes ursprünglicher Version des Textes „Es ist sehr möglich“ erkennbar sind, bietet sich zunächst ein Blick auf die Darstellung des Protagonisten Stryk [Abbildung 1] durch die heterodiegetische Erzählinstanz der Novelle an. Über Staatsrat Stryk merkt sie gleich im ersten Satz der Novelle an, dass er „fast bei jeder Gelegenheit die ihm zur Gewohnheit gewordene Redensart […] Es ist sehr möglich“ im Munde führe. Der Staatsrat sei ein „angesehener, hochachtbarer Mann“ (S. 276), dem es gelungen sei, sich über alle politisch unruhigen Zeiten und die damit verbundenen Machtwechsel hinweg immer eine gehobene politische Position und die Achtung seiner Fürsten zu bewahren. Er verfüge über einen hohen Grad an Bildung und könne sich in jeder Situation angemessen verhalten; darüber hinaus schreibe man ihm gerade aufgrund seines anhaltenden beruflichen Erfolges in der höheren Politik eine Weitsicht zu, die ihm gar den Ruf eines »wahren Propheten« (S. 277) eingetragen habe.

Doch das Bild, das in dieser einleitenden Erzählpassage der Novelle von Stryk gezeichnet wird, ist keineswegs durchgängig dasjenige einer als potentielles Vorbild über der Erzählinstanz sowie dem adressierten Publikum stehenden Figur; im Gegenteil, die Darstellung Stryks zeichnet sich insbesondere durch ihre Ambivalenz aus, durch ein ständiges Spiel des Erhöhens und Herabsetzens bzw. Relativierens. Bereits im zweiten Satz der Novelle wird über die sogenannte ,Redensart‘ angemerkt, dass sie sich mitunter verselbständigt habe und der Textsorte, in welcher sie jeweils verwendet worden sei, nicht immer angemessen gewesen sei. Indem dies als Schwäche benannt und über ein stilles Lächeln angesichts dieses Makels berichtet wird, wechselt Stryk bereits während der Lektüre der ersten Absätze der Novelle vor den Augen des Lesers die hierarchischen Ebenen: Schien er eben noch Teil einer über ihm und der Erzählinstanz angeordneten Ebene zu sein, ist er nun jemand, dessen Schwächen von ihnen als auf einer niedrigeren, höchstens aber gleichrangigen Ebene befindlich belächelt werden können, denn des »Nachbars Schwächen«, so bemerkt die Erzählinstanz, belächle man doch mit »stets verjüngtem Vergnügen« (S. 276).

Diese ambivalente, durchweg indirekte Charakterisierung Stryks anhand der Referierung des zwiespältigen Eindrucks, den er auf andere Personen mache, kennzeichnet die gesamte einleitende Erzählpassage. Durch diese textuelle Strategie erzielt Zschokke gleich mehrere Effekte: Da Stryk offensichtlich allein aufgrund der Aussagen der Erzählinstanz sowie der Wiedergabe der Eindrücke anderer Figuren der erzählten Welt nicht eindeutig ein- oder zugeordnet werden kann, wird auf der Seite des Rezipienten das Bedürfnis nach weiterer Lektüre geweckt, um sich auf diese Weise ein eigenes Bild vom Staatsrat schaffen zu können. Das Mysterium um die Figur Stryks wird insbesondere durch die Zuschreibung einer göttergleich anmutenden Eigenschaft erhöht: Des Prophetentums. So stellt sich nach der Lektüre der einleitenden Passage der Novelle die Frage, ob es sich nun tatsächlich um einen wahren Propheten handelt oder nicht, sowie, damit verknüpft, ob Stryk aufgrund seiner z.T. beeindruckenden Fähigkeiten und Leistungen auf einer höheren hierarchischen Ebene, vielleicht gar auf einer übermenschlichen, anzuordnen ist, also tatsächlich ein Beispiel darstellt, ein Vorbild, von dem man lernen könnte, oder doch >nur< einen Nachbarn, einen durchschnittlichen Vertreter des Volkes.

Der von Nethersole als Kriterium für die Zuschreibung von Popularität geforderten Empfänglichkeit seitens des Rezipienten ist auf diese Weise der Boden bereitet; gleichzeitig wird durch diese ambivalente Art der Charakterisierung sowohl ein Publikum angesprochen, welches sich aufgrund seiner Bildung eventuell gern auch einmal über andere erhaben fühlt, über sie lächelt, und sich vom folgenden Teil der Erzählung eine amüsante, satirische Geschichte versprechen könnte, in welcher die rationalen Gründe für den erfolgreichen Machterhalt Stryks durch alle politischen Wirren hindurch aufgedeckt werden, als auch ein Publikum, das sich von der Vorstellung der Existenz übermenschlicher Fähigkeiten noch immer nicht ganz verabschiedet hat und gern mehr über das Geheimnis von Stryks Prophetentum erfahren möchte.

Doch noch bleibt offen, ob es sich um eine belehrende Erzählung und/oder eine Satire handelt, eine eindeutige Genrezuordnung kann bis zu diesem Punkt der Lektüre nicht vorgenommen werden. In Zschokkes Novelle folgt nun ein Wechsel der Darstellungsmodi: In einer sehr langen Dialogpassage wird uns Stryk selbst präsentiert, als er seinem Sohn Fritz berichtet, wie er zu der sogenannten ,Redensart‘ „Es ist sehr möglich“ gelangt ist. Dabei verfolgt er das erklärte Ziel der Wissenstradierung, erzählt er doch allein aus seinem eigenen Leben, um seinem familiären Nachfolger anhand von empirischen Beispielen die Nützlichkeit der eigenen Gewohnheit zu demonstrieren und ihn auf diese Weise dazu zu bewegen, ebenfalls die sogenannte ,Redensart‘ als Leitlinie des eigenen weiteren Lebens zu übernehmen. Dieser familiäre Nachfolger Fritz wiederum kann als eine Figur gesehen werden, welche nicht nur auf der Ebene der fiktionsinternen Kommunikation die Aufgabe erfüllt, Staatsrat Stryk einen Anlaß zur Rede und damit zur Erläuterung seiner ‚Redensart‘ zu geben, sondern sie dient zugleich als potentielle Identifikationsfigur für viele Adressaten des Textes, indem sie zunächst eine eher skeptische Haltung gegenüber der Lebensmaxime des Vaters einnimmt und die Fragen ausspricht sowie die evaluativen Kommentare abgibt, welche sich so manchem Leser und so mancher Leserin der Novelle bei Lektüre der Lebensgeschichte stellen mögen. Damit vermittelt die Figur des Sohnes und gleichzeitigen Adressaten der Erzählung des Staatsrats zwischen der Ebene der fiktionsinternen Kommunikation der Novelle und derjenigen zwischen Text und potentiellem Publikum.

Die für die Rede Stryks verwendeten autobiographischen Beispielerzählungen decken systematisch zentrale Bereiche des menschlichen Lebens ab: Den privaten, familiären Bereich, den ökonomischen und schließlich den politischen, wobei dieser im Fokus der Aufmerksamkeit steht; die letzten Beispielerzählungen Stryks bzw. der Erzählinstanz, die sich später wieder einschaltet und über weitere, vergleichbare politische Erfahrungen des Staatsrates aus der Außenperspektive berichtet, stammen ausschließlich aus dem politischen Leben. Die dabei verwendeten evaluativen Kommentare von Stammhalter Fritz und von der Erzählinstanz sind nun, nach der Wiedergabe der, so wird suggeriert, authentischen Erzählungen Stryks, jedoch ganz und gar nicht mehr ambivalent, sondern ausnahmslos anerkennend.

Alle Beispielerzählungen des Staatsrates sowie die daran anschließenden der Erzählinstanz laufen nach demselben narrativen Schema ab und bieten somit gleich mehrere Wiedererkennungselemente nicht nur für Fritz, sondern auch für die realen Rezipienten  außerhalb des Textes: Stryk gerät zunächst in eine heikle Lage, die als in verschiedener Hinsicht – privat, finanziell oder in Bezug auf seine gesellschaftliche Stellung – gefährlich dargestellt wird. In dieser Krisensituation ist eine Entscheidung des Handlungsträgers der Erzählung  gefragt, doch gerade diese Entscheidung birgt große Gefahren für ihn. Anfangs, in den ersten beispielhaften Erzählungen, vertraut er seinem bisherigen Wissen über die jeweilige Situation, und entscheidet entsprechend. So schickt er seinen besten, anscheinend über alle Zweifel erhabenen Freund auf eine Reise, auf welchem dieser sein eigenes Erbe in Vertretung antreten soll, denn Stryk selbst möchte seine Verlobte Philippine noch nicht einmal für kurze Zeit allein lassen. Die Entscheidung erweist sich als falsch, denn der Freund brennt mit dem Erbe durch; Stryk beschließt daraufhin, den Freund zu verfolgen und Philippine doch allein zu lassen, aber auch diese Entscheidung führt zu einem unglücklichen Ausgang, da Philippine während seiner Abwesenheit einen anderen heiratet.

Die Reaktion Stryks auf diese Geschehnisse ist ebenfalls zunächst immer gleich: Sie äußert sich in Unglauben, welcher sich konkret in den stets wiederholten Worten „Es ist nicht möglich!“ offenbart. Doch Stryk erweist sich als lernfähig; fortan kehrt er die in dieser Aussage enthaltene Negation spezifischer Möglichkeiten in ihr Gegenteil um, indem er jegliches potentiell eintreffendes Geschehen in seine Reflexion und die sich daraus ergebende Handlung einbezieht. Konkret setzt er dieses Vorhaben um, indem er die sogenannte ,Redensart‘ nicht nur bewußt annimmt und möglichst oft anwendet, sondern geradezu verinnerlicht, und auch seinen Sohn dazu auffordert: „Sie [die ,Redensart‘] muß sich aber durch beständigen Gebrauch in dein ganzes Wesen auflösen, sich gleichsam in deinem ganzen Nervenbau verknorpeln – sonst frommt sie nichts, und du bleibst charakterlos.“ (S. 22f.) Hier läßt Zschokke seinen Protagonisten gleichsam eine zentrale ästhetische Forderung Schillers umsetzen, indem er den Nucleus seiner Novelle, das vermittelte Wissen in Form der sogenannten ,Redensart‘, nicht nur den Verstand ansprechen läßt, sondern auch den ganzen Menschen; hat sich der potentielle textexterne Rezipient von Stryks Rede hier bereits mit Fritz, dem stets die weitere Erzählung durch seine Fragen in Gang haltenden fiktiven Zuhörer Stryks, identifiziert, könnte er auch diese direkte Anrede des Staatsrats sowie die damit verbundene Aufforderung auf sich beziehen.

Indem Zschokke seinem Publikum in der Figur Stryks einen Einzelfall präsentiert, welcher als vorbildhaftes Muster erfolgreichen rationalen Handelns gelten kann, und anhand dieses Exemplums eine Reihe vergleichbarer Handlungssituationen mit identischer Grundstruktur auffächert – die Beispielgeschichten –, aus deren Studium sich eine erfolgversprechende Handlungsmaxime und somit neues Wissen kondensieren läßt, simuliert er zudem die populäre Struktur von Fallgeschichten. Stryk vollzieht vor den Augen von Zschokkes Publikum in einem musterhaften Lernprozeß die Entwicklung dieses neuen Wissens, indem er von den erlebten Einzelsituationen und somit von empirischen Daten auf die Gesetzmäßigkeit der Situation schließt.[18] Dieser Erkenntnisprozeß vollzieht sich zunächst ex negativo, indem Stryk gerade aus seinen unangenehmen Erfahrungen lernt, weitere Erlebnisse dieser Art zu vermeiden. Indem Zschokke seine Sammlung exemplarischer Geschichten von und über Stryk gerade mit alltäglichen Beispielen beginnen läßt, welche Erlebnisse von Treuelosigkeit und enttäuschter Leidenschaft schildern, präsentiert er seinem Publikum vertraute, allseits bekannte Erfahrungen, welche allzu leicht nachzuempfinden sind und somit auch den Nachvollzug der daran angeknüpften Entscheidung zur bewußten und allumfassenden Verinnerlichung der auf diese Weise entwickelten Leitmaxime „Es ist sehr möglich“ im Hinblick auf jeglichen potentiellen Adressatenkreis der Novelle begünstigen.

Durch die beständige Wiederholung ein- und derselben situativen Elemente – krisenhafte Gefährdung der eigenen Person, Zwang zur Entscheidung und Rettung durch den Gebrauch der Leitmaxime – wird ein verallgemeinerbares Modell entwickelt, welches aufgrund seiner schier unbegrenzten Anwendbarkeit auch dem Publikum einen Spiegel vorzuhalten scheint, führt es doch zur Reflexion darüber, ob man nicht selbst in vergleichbare Situationen geraten könnte – wenn dies in der Vergangenheit nicht schon geschehen sein sollte.

Auf diese Weise gelingt die Inklusion des Publikums, welche noch dadurch gefördert wird, dass die Erzählinstanz selbst die sogenannte ,Redensart‘ schon sehr früh übernimmt. Damit wechselt die Maxime von der Ebene des Erzählten auf diejenige des Erzählens, also von der Figurenebene auf die Kommunikationsebene zwischen Erzählinstanz und narrativem Leser (S. 277); indem die Erzählinstanz die Formulierung der von ihm beschriebenen Figur in ihren eigenen Diskurs integriert, stattet sie Stryk mit zusätzlicher Autorität aus und demonstriert  den Erfolg seines Versuchs der Wissensvermittlung in der eigenen Rede. Zusätzlich zu Mitteln der Inklusion breiter Adressatenkreise des Textes sind jedoch in Zschokkes Novelle auch Verfahren der Exklusion zumindest einzelner Teile des potentiellen Publikums erkennbar. Denn diejenigen, die auch nach der Lektüre des beschriebenen erfolgreichen und auf der Anwendung von rationaler Erkenntnisfähigkeit beruhenden Lernprozesses Stryks noch immer an die Existenz irrationaler Fähigkeiten wie die dem Staatsrat nachgesagte prophetische Gabe glauben, werden statt Stryk selbst zum Objekt der Satire, indem Zschokke seine Figur den ihm angehängten Mythos in eigener Person dekonstruieren läßt:

Als man ihm einst über seine seltene Gabe ein Kompliment machte, konnte er sich des Lachens nicht enthalten. Man kann, sagte er, unter Leuten, die schlechterdings blind sein wollen, ganz wohlfeil zur Würde eines Sehers und Weissagers gelangen. Mit gesundem Menschenverstand und kaltem Blut reicht man weit, wenn alle Welt in leidenschaftlicher Heftigkeit widereinander rennt und sich über die Dinge, wie sie sind, verblendet.

Folgt man Bürgers Auffassung von Popularität, der auf die Frage nach dem Zielpublikum seiner Literatur bekanntlich geantwortet hat »Volk! Nicht Pöbel!«,[19] so scheidet sich an diesem Punkt von Zschokkes Novelle das Volk vom Pöbel; ersteres kann belehrt und auf eine höhere Wissensstufe hinaufgezogen werden, letzterer nicht.

1.4 Die Leitmaxime „Es ist sehr möglich“ als populäres Metawissen

Nun bleibt noch zu klären, welcher Art das Wissen ist, welches dem Volk in diesem Erzähltext Zschokkes eigentlich in Form der titelgebenden Aussage „Es ist sehr möglich“ vermittelt werden soll, und inwiefern es einen solchen zentralen Stellenwert besitzt, dass es von Zschokke in den Mittelpunkt der gesamten Novelle gerückt wird und deren konkrete literarische Ausgestaltung maßgeblich beeinflußt. Denn während Zschokke in anderen Werken oftmals um die Vermittlung einer Vielzahl höchst heterogener Wissensbestände bemüht war, konzentriert sich dieser Prosatext auffallend auf nur eine einzige moralpädagogische Botschaft.

Entgegen den im Text selbst verwendeten Begrifflichkeiten ist „Es ist sehr möglich“ nach heutigen Definitionen der Literaturwissenschaft weder eine Redensart noch ein Sprichwort;[20] viel eher könnte man diese Phrase als standardisierte Replik[21] einordnen, die bereits aufgrund der ungewöhnlichen Verknüpfung des emphatischen „sehr“ mit dem unemphatischen „möglich“ Aufmerksamkeit auf sich zieht. Einerseits impliziert diese Replik eine Entgrenzung von Wissen, denn das in der Phrase „Es ist sehr möglich“ enthaltene Wissen ist aufgrund seines hohen Grades an Allgemeinheit prinzipiell auf jeden Sachverhalt und jede Situation anwendbar.

Inhaltlich verweist die Replik jedoch zugleich auf die Grenzen jeglichen Wissens, denn unabhängig davon, auf welchem noch so aktuellen Wissensstand man sich gerade befindet, lehren die Beispielerzählungen aus Stryks Leben doch, dass immer ein nicht vorhersehbares oder kalkulierbares Ereignis eintreten kann, auf welches man im Grunde durch kein noch so spezifisches Wissen ausreichend vorbereitet sein kann. Damit offenbart Zschokke hier zwei Grundbedingungen jeden Wissensbestandes, nämlich dessen Begrenztheit und zeitliche Bedingtheit, da Wissen niemals allumfassend sein und jederzeit durch neuere Erkenntnisse überholt werden kann. Die Maxime „Es ist sehr möglich“ vermittelt somit ein Metawissen, also ein Wissen über Wissen, nämlich über dessen Endlichkeit. Funktional betrachtet hält es zumindest für einen kurzen Moment alle Handlungsmöglichkeiten offen und verschafft damit demjenigen, der zum Handeln gezwungen ist, einen kurzen Entscheidungsaufschub, den er gewinnbringend zur Reflexion und damit zum Erhalt der eigenen Position sowie der damit verbundenen Möglichkeiten nutzen kann, wie gerade die aus dem Bereich politischen Handelns gewählten Beispielerzählungen über den beständigen erfolgreichen Machterhalt Stryks zeigen. Während eine Entscheidung stets die Zahl der Handlungsmöglichkeiten reduziert und somit potentiell auch immer Gefahren in sich birgt, erhält die standardisierte Replik „Es ist sehr möglich“ zumindest für einen kurzen weiteren Moment die Zahl der Handlungsmöglichkeiten und kann auf diese Weise den entscheidenden Vorteil gegenüber vorschnellen Entscheidungen verschaffen.

1.5 Einordnung der Novelle Zschokkes in die zeitgenössische theoretische Debatte über ,Popularität‘

Fasst man die bisher entwickelten Analyseergebnisse zusammen, so gelingt es Zschokke durch die ambivalente Darstellung des Protagonisten Stryk in der einleitenden Erzählpassage seiner Novelle zunächst, unterschiedliche Teile des Publikums zu adressieren, indem er sie auf verschiedene Art zur Fortsetzung der Lektüre motiviert; die Heterogenität seines potentiellen Publikums ist ihm also durchaus bewußt. Analog zu Schiller verfolgt er zudem offenbar das Ziel einer Wirkung seiner Literatur auf den ganzen Menschen, wie die Forderung seines Protagonisten nach buchstäblicher Verinnerlichung der empfohlenen Handlungsmaxime zeigt; im Gegensatz zu Schiller stellt er jedoch wie Bürger das pädagogische Anliegen seiner literarischen Werke über das ästhetische und richtet die gesamte Gestaltung seiner Novelle darauf aus.

Hatte Greiling populärer Literatur als höchster Form der Wirkung noch Aufklärung zugebilligt und sie der Wissenschaft konträr gegenübergestellt, deren höchstes Ergebnis ein »System der Philosophie« sein könne, ist bei Zschokke dagegen keine eindeutige Trennung von Literatur und Wissenschaft zu verzeichnen; statt dessen suggeriert er durch die Simulation des Genres der Fallgeschichten Wissenschaftlichkeit und präsentiert als Ergebnis eine umfassende Handlungsmaxime, welche er seinen Protagonisten Stryk selbst als „System in vier Worten“ (21) sowie als „System meiner gesamten Lebensweisheit“ (21 f.) charakterisieren läßt. Dieses System ist eine Strategie zur Wahrung der eigenen Position möglichst ohne Verluste, die in verschiedenen Handlungsfeldern angewendet werden kann, und damit letztlich eine Strategie zum Erhalt der eigenen Position und aller damit verbundener Handlungsoptionen.

Die narrative Vermittlung und Integration von Wissen ist in dieser Novelle Zschokkes ebenso zu verzeichnen, wie die strukturelle Präsentation eines Einzelfalles mit Modellcharakter, von dem ausgehend in einem Prozeß des Lernens durch Selbstbeobachtung eine generalisierende Schlußfolgerung entwickelt wird. Diese Schlußfolgerung besteht darin, daß die Aussage „Es ist sehr möglich“ unfehlbar als Reaktion auf alle potentiellen Situationen angewendet werden kann, weshalb der Maxime „Es ist sehr möglich“ gar Systemcharakter zugewiesen wird. Auch die Inklusion des Lesers gelingt durch verschiedene narrative Verfahren, weshalb die von Pethes unter historischer und funktionaler Perspektivierung entwickelten Definitionskriterien für ,Popularität‘ und ,Popularisierung‘ als erfüllt gelten können. Darüber hinaus offenbart gerade die Anwendung des von Pethes entwickelten theoretischen Modells populärer Darstellungsstrategien in Fallgeschichten auf Zschokkes Novelle sowie die Analyse der Funktion von Fritz als potentielle Identifikationsfigur für das Publikum, auf welche Weise eine Kommunikationssituation in einem Erzähltext wie demjenigen von Zschokke virtuell zu einer solchen zwischen Text und Publikum erweitert werden kann.

2. Vergleich mit der Neuedition um 1960

Wurde bislang hauptsächlich analysiert, welche literarischen Verfahren zur Popularisierung von Wissen in Zschokkes Novelle identifizierbar sind und wie das darin vermittelte populäre Wissen gefaßt werden kann, erfolgt nun der Vergleich mit der Neuedition des Erzähltextes um 1960. Bereits der Blick auf den neuen Titel der Textversion, die um 1960 herum publiziert worden ist, kann als erster Hinweis darauf gelesen werden, dass die ursprünglich im Fokus der Novelle stehende Lebensmaxime „Es ist sehr möglich“ nicht mehr die gleiche Stellung hat. Offenbar hat hier eine Schwerpunktverlagerung von der Vermittlung der Standardreplik auf diejenige des Bildes vom Prophetenspiegel stattgefunden. Tatsächlich schließt der Text in der Neuauflage auch mit der Aufforderung zum Blick in den Prophetenspiegel: „Um in die Zukunft zu schauen, muß man rückwärts sehen, nicht vorwärts. – Rückwärts in die Vergangenheit, da hangt der Prophetenspiegel!“ (Prophetenspiegel, S. 42)[23]

Schon in der von Zschokke redigierten Textversion wird die beständige Anwendung der Replik „Es ist sehr möglich“ auf die Frage nach der Möglichkeit radikaler politischer Machtwechsel mit einem Blick auf die zahlreichen politischen Wechsel von Regierungsformen in der Geschichte begründet.[24] Das immer wieder auftretende Phänomen, dass viele Menschen zunächst voller Überzeugung und rückhaltlos die jeweils neue Regierungsform unterstützen, dies nach einem erneuten Machtwechsel jedoch als Fehler eingestehen und bereuen, wird auch schon in der von Zschokke autorisierten Fassung aus dem Jahre 1825 anhand des Beispiels des Machtwechsels von den Republikanern zu Napoleon mit folgenden Worten der Erzählinstanz sowie Stryks kommentiert:

Nun war kein Mensch mehr Republikaner. Ja, niemand wollte jemals zu den Republikanern gehört haben, sondern jeglicher behauptete, von dem Schwindel, der einst alle befallen hatte, freigeblieben zu sein. Man rechnete es zur bittersten Schande, nicht allezeit gut königlich gedacht zu haben.
Ich finde darin keine Schande, sagte Stryk, als sich einst darüber zwischen seinen besten Freunden Vorwürfe und Wortwechsel erhoben: ich glaube, ihr alle habt, da der Schnupfen umging, davon befallen werden können. Und kommt ähnliche Witterung wieder, könnet ihr auch den Schnupfen noch einmal bekommen. Es ist sehr möglich. (Prophetenspiegel, S. 32)

Direkt neben diese Textpassage wurde in der Neuedition um 1960 folgende Illustration Fritz Fischers plaziert:

[Abbildung 2]

Spätestens beim Blick auf diese Illustration wird offenbar, welche Funktion die Verlagerung des thematischen Schwerpunktes in der Neuauflage sowie die erstmalige Illustrierung des Textes durch Fritz Fischer erfüllten: Statt die Popularisierung der Zeit zur Reflexion verschaffenden Handlungsmaxime „Es ist sehr möglich“ in den Mittelpunkt der Publikation zu stellen, wie dies noch in den autorisierten Textversionen des Autors selbst der Fall war, liegt nun um 1960, also kurz nach dem Untergang des Dritten Reichs, der Fokus auf der moralpädagogischen Anweisung zur Reflexion der eigenen Geschichte, um in der Zukunft vorsichtiger zu agieren und eine Wiederkehr solcher Regime wie das des Nationalsozialismus, an welchen die abgebildete Armbewegung durch ihre Ähnlichkeit zum Hitlergruß erinnert, verhindern zu können; mit einer entsprechenden Betonung der zentralen Bedeutung einer beständigen Reflexion der eigenen Geschichte sowie, damit unmittelbar verknüpft, der eigenen Person ist auch die Titelillustration zu erklären, auf der eine janusköpfige Figur zu erkennen ist, die in einen Spiegel blickt.

[Abbildung 3]

Der moralpädagogische Impetus der Neuedition, welcher in der neu geschaffenen Text-Bild-Relation und in der Verlagerung des thematischen Schwerpunktes erkennbar ist, kann jedoch trotz bzw. gerade aufgrund der in ihren Grundzügen sicherlich anerkennenswerten Warnung vor einer politischen Bewegung wie dem Nationalsozialismus nicht rückhaltlos positiv gewertet werden: Indem der Nationalsozialismus in der Edition der Novelle um 1960 gerade durch die neu erstellten Illustrationen auf eine Ebene mit anderen, schnell wechselnden Regierungsformen gestellt wird, wird seine exzeptionelle Stellung als wohl schrecklichste, da den Völkermord geradezu perfektionierende Staatsmacht nivelliert; auf diese Weise wird der Nationalsozialismus indirekt gleichsam als ein >Irrtum< unter vielen in der politischen Geschichte der Welt erklärt. Insbesondere mittels der eben gezeigten Bild-Text-Kombination wird er gar mit einer vorübergehenden Erkrankung, genauer mit einem Schnupfen, assoziiert, und an der Infektion mit Erkältungskrankheiten ist man in der Regel oftmals wirklich schuldlos, denn die Krankheiten liegen eben ,in der Luft‘, wie es ja umgangssprachlich nicht ohne Grund heißt. Doch durch die hier aufgezeigte Visualisierungsstrategie in der Textausgabe um 1960 kann man als Rezipient gar den Eindruck erhalten, das Volk der Deutschen sei von jeder Schuld an der Machtergreifung der Nationalsozialisten freizusprechen, wurde es doch 1933 gleichsam nur von einem „Schnupfen“ erfaßt, und von diesem könne laut Ansicht des als vorbildhaft charakterisierten Stryk schließlich jeder befallen werden, weshalb darin keine Schande zu finden sei.

Insofern scheint es angemessener, die Neuedition inklusive der Illustrationen Fritz Fischers von ca. 1960 nicht als gelungene Aktualisierung von Zschokkes Novelle einzuordnen, sondern eher als nicht genügend in ihren Konsequenzen reflektierte Verstärkung einer bereits in der ursprünglichen Textversion enthaltenen, diskussionsbedürftigen Wertung von rückblickend als falsch erkannter politischer Agitation, welche als bloßer „Schnupfen“ in nicht unproblematischer Weise verharmlost wurde. Eine solche Wertung seitens des Autors Zschokke selbst mag zwar angesichts der darin enthaltenen versöhnlichen Geste gegenüber ehemals in die Irre gehenden politischen Akteuren in vielen Fällen einen dringend erforderlichen politischen Neuanfang ermöglichen, an dessen Beginn Versöhnung stehen muß, aber dies geschieht hier lediglich um den Preis einer Verdrängung von Schuld, die zu einer verzeihlichen menschlichen Schwäche deklariert wird. Folglich sollte die Neuedition um 1960 nicht als Grundlage für weitere Auflagen der Novelle „Es ist sehr möglich“ dienen. Letztere ist allerdings aufgrund ihrer durchaus vielfältigen narrativen Popularisierungsstrategien und des in Form der Leitmaxime enthaltenen populären Wissens prinzipiell durchaus eine Lektüre wert; dass somit auch eine erneute Auflage dieses Erzähltextes – aber in der ursprünglichen, nicht illustrierten Version – aus Sicht von Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft sinnvoll wäre, ist, mit den Worten Zschokkes gesprochen, „sehr möglich“.